Migration

Dublin-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am Dienstag ein bemerkenswertes Grundsatzurteil zum Dublin-System gefällt. Demnach können Flüchtlinge nicht mehr ohne weiteres nach Italien zurückgeschoben werden.

Laut Gericht sind die Zustände in Italien zwar nicht so schlimm wie in Griechenland. Das Gericht hat dennoch erhebliche Zweifel an den Aufnahmekapazitäten Italiens für Flüchtlinge (Absatz 115 des Urteils). Das gilt insbesondere für besonders schutzbedürftige Personen wie Kinder. Der EGMR hat deshalb für Rückschiebungen von Familien mit Kindern jetzt hohe Schutzhürden aufgestellt: Sie dürfen nur dann nach Italien abgeschoben werden, wenn garantiert wird, dass sie familien- und kindergerecht gemeinsam als Familie untergebracht werden statt in einer völlig überfüllten Unterkunft oder gar auf der Straße zu landen (Absätze 120 bis 123 des Urteils). 

Das bedeutet aus unserer Sicht, dass sich Mitgliedsländer, die Flüchtlinge nach Italien abschieben wollen, nun von der italienischen Regierung für jeden Einzelfall versichern lassen müssen, in welcher Einrichtung genau sie untergebracht werden, dass sie dort gut versorgt und betreut werden und dass Familien nicht auseinander gerissen werden. Zumindest braucht es solche Versicherungen bei Familien mit Kindern und anderen besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen. Wenn Italien eine entsprechende Unterbringung nicht garantieren kann, weil die - sehr begrenzten Plätze - voll sind, kann auch nicht abgeschoben werden.

Nach Angaben von Eurostat hat Italien im vergangenen Jahr insgesamt 15 532 Übernahmegesuche aus anderen EU-Staaten erhalten.

Hier findet ihr den Link zur Presserklärung des EGMR und den Link zum entsprechenden Urteil.

Ska Keller, migrationspolitische Sprecherin der Grünen im Europäischen Parlament, hat das Urteil so kommentiert: "Dieses Urteil zeigt, dass die Dublin-Regelung vorne und hinten nicht mehr funktioniert. Es ist höchste Zeit, dass wir sie durch ein vernünftiges und solidarisches System ersetzen. Es bringt nichts, an einer Verordnung festzuhalten, die den südlichen EU-Mitgliedsstaaten die ganze Verantwortung für Flüchtlinge in der EU gibt und sie damit offensichtlich überfordert. Wir brauchen endlich ein echtes, gemeinsames Asylsystem in der EU."


Das Urteil des EGMR steht in einer Reihe mit weiteren Urteilen, welche die Dublin-Verordnung in Frage stellen:

  • Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat im vergangenen Jahr entscheiden, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge faktisch aus dem Dublinsystem herausfallen. Sie dürfen nicht mehr in einen anderen Mitgliedsstaat zurückgeschoben werden, auch wenn sie dort bereits einen Asylantrag gestellt haben. Vielmehr muss derjenige Mitgliedsstaat ihren Asylantrag bearbeiten, in dem sich das Kind/der Jugendliche gerade aufhält. Begründung: Das Kindeswohl hat Vorrang (Urteil in der Rechtssache C-648/11 MA, BT, DA / Secretary of State for the Home Department vom 6. Juni 2013)
  • Urteil des EGMR gegen Abschiebungen nach Griechenland wegen systemischer Defizite im Asylsystem (Case M.S.S. vs Belgium and Greece: Judgment of 21/01/2011).  Das Urteil wurde Ende 2011 durch den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg bestätigt, der Abschiebungen nach Griechenland bis auf weiteres verbietet. Der Grund: Systemische Mängel im griechischen Asylsystem und bei der Unterbringung von Schutzsuchenden. Asylsuchenden droht in Griechenland die reale Gefahr unmenschlicher und erniedrigender Behandlung (Urteil in den Rechtssachen C-411/10 N. S. / Secretary of State for the Home Department und C-493/10 M. E. u. a. / Refugee Applications Commissioner und Minister for Justice, Equality and Law Reform)
  • Diverse deutsche Gerichte sind der Auffassung, dass es auch in Italien systemische Mängel im Asylsystem gibt. Sie haben deshalb in mehreren Fällen Abschiebungen nach Italien untersagt.

 

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