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Der Vorschlag der Europäischen Kommission für ein neues Frontex-Mandat

Der Vorschlag der Europäischen Kommission für einen „Europäischen Grenz- und Küstenschutz“ sieht eine beträchtliche Ausweitung der Befugnisse von Frontex vor – und das ohne eine nennenswerte Verstärkung der parlamentarischen Kontrolle oder des Schutzes der Grundrechte. Bisher war die EU-Grenzschutzagentur damit beauftragt, die Grenzüberwachung der Mitgliedstaaten zu koordinieren. Jetzt soll Frontex in eine „Europäische Agentur für Grenz- und Küstenschutz“ umfunktioniert werden, welche die Verantwortung für die Kontrolle und Überwachung der EU-Außengrenzen (einschließlich der Häfen und Flughäfen) mit den Mitgliedstaaten teilt. Der Exekutivdirektor von Frontex kann für die Mitgliedstaaten verbindliche Entscheidungen treffen. Falls ein Mitgliedstaat die Vorgaben nicht umsetzt, kann die Kommission beschließen, eine Frontex-Eingreiftruppe zu entsenden – und zwar gegen den Willen der jeweiligen Regierung. Die von der Kommission vorgeschlagenen Kontrollmechanismen und Grundrechtsgarantien sind in keiner Weise auf die neuen Kompetenzen von Frontex abgestimmt. Politisches Ziel des Vorschlags ist es die Zahlen „unkontrollierter Grenzübertritte“, auch die von Flüchtlingen, zu reduzieren.

Die wichtigsten Elemente des Vorschlags

  • Der umstrittenste Punkt des Kommissions-Vorschlags betrifft Frontex-Einsätze,die ohne die Zustimmung des Mitgliedstaats in dessen Hoheitsgebiet durchgeführt werden. Falls ein Mitgliedstaat nicht in der Lage sein sollte, die „erforderlichen regulierenden Maßnahmen“ durchzuführen, um seine Grenzen zu kontrollieren, oder im Falle eines „unverhältnismäßigen Migrationsdruckes“ kann die Europäische Kommission entscheiden, einen Frontex-Einsatz einzuleiten – und zwar ohne Zustimmung des betroffenen Mitgliedstaats. Das Verfahren beinhaltet die folgenden Schritte:

1.    Eine regelmäßige „Schwachstellenanalyse“ von Frontex, mit der die Fähigkeit sowie die Bereitschaft der Mitgliedstaaten bewertet wird, ihre Außengrenzen zu schützen.

2.    Der Exekutivdirektor von Frontex beschließt, wenn nötig, dass „Korrekturmaßnahmen“ durchgeführt werden, um die Grenzkontrollen des Mitgliedstaats zu verstärken. Diese Entscheidung ist für alle Mitgliedstaaten rechtlich bindend.

3.    Wenn ein Mitgliedstaat die vorgegebenen Maßnahmen nicht durchführt, konsultiert die Kommission den Ausschuss aus Vertretern der Mitgliedstaaten, der im Kontext des Schengener Grenzkodex eingerichtet wurde.

4.    Falls der Ausschuss eine positive Empfehlung abgibt, kann die Kommission auf der Basis eines Durchführungsrechtsaktes einen Frontex-Einsatz beschließen und den Mitgliedstaat dazu verpflichten, mit Frontex zu kooperieren.

5.    Zu den möglichen Zwangsmaßnahmen gegenüber einem Mitgliedstaat gehören: ein Frontex-Einsatz, ein Soforteinsatzteam (ein beschleunigter Frontex-Einsatz), die Registrierung und Überprüfung von Asylsuchenden und Migrant*innen in so genannten „Hotspots“, ein gemeinsamer Einsatz mit einem benachbarten Drittland, eine Rückführungsoperation sowie die Bereitstellung von technischer Ausrüstung wie beispielsweise Fingerabdruckscanner.

6.    Der betroffene Mitgliedstaat „sollte dem Durchführungsrechtsakt Folge leisten“ und mit der Frontex-Direktion den Einsatzplan abstimmen. Es ist unklar, was passiert, falls es zu keiner Einigung kommen sollte.

  • Leben zu retten gehört nach wie vor nicht zum Frontex-Mandat: Der Vorschlag der Kommission sieht lediglich vor, dass Frontex sich darauf einstellen sollte, dass „manche Einsätze auch humanitäre Notsituationen und Seenotrettungen beinhalten können“. Der Vorschlag verpflichtet Frontex aber nicht, Einsätze zur Rettung von Menschenleben durchzuführen.
  • Stattdessen wird das neue Frontex-Mandat auf die innere Sicherheit ausgedehnt: Bisher war Frontex dafür verantwortlich, irreguläre Einwanderung zu verhindern und grenzüberschreitende Kriminalität wie Schmuggel und illegalen Handel zu bekämpfen, während die innere Sicherheit in den alleinigen Zuständigkeitsbereich der EU-Agentur für polizeiliche Zusammenarbeit, Europol, fiel. Der neue Vorschlag sieht vor, dass die Bekämpfung von „Foreign Fighters“ (Ausländern, die sich dem Terrorismus anschließen) künftig auch zu den Aufgaben von Frontex zählt. Dafür soll Frontex so genannte „Mehrzweck-Einsätze“ durchführen, zu denen Sicherheitskontrollen gehören können.
  • Die neu aufgestellte Frontex-Agentur soll auch in Drittstaaten, die an die EU angrenzen, uneingeschränkt operieren dürfen. Bisher ist die Zusammenarbeit mit Drittstaaten auf behördliche Zusammenarbeit beschränkt.
  • Bei Abschiebungenwerden die Befugnisse von Frontex erheblich ausgeweitet: Die neue Frontex-Agentur kann künftig selbst Einsätze zur Abschiebung von Personen, die kein Bleiberecht in der EU haben, einleiten. Bisher kann Frontex solche Rückführungsmaßnahmen nur auf Anfrage von Mitgliedstaaten durchzuführen. Die neue Frontex-Behörde wird über eine Rückführungsabteilung verfügen sowie über ein ständiges Pool von Zwangsrückführungsbeamten, Rückführungsexperten und Zwangsrückführungsbeobachtern. Darüber hinaus sieht der Vorschlag der Kommission vor, dass die von Frontex initiierten Abschiebeflüge von Beamten aus Drittstaaten begleitet werden. Frontex wird auch befugt sein, Abschiebungen aus Nicht-EU-Ländern zu organisieren, wie beispielsweise aus den Westbalkanländer und aus der Türkei.
  • Der Vorschlag der Kommission sieht vor, dass die Mitgliedstaaten Frontex eine stehende Truppe von mindestens 1.500 Grenzschützern zur Verfügung stellen, die binnen drei Werktagen einsatzbereit sein muss. Darüber hinaus wird ein technischer Ausrüstungspool bereitgestellt.
  • Frontex ist verpflichtet, ein Beschwerdeverfahren einzurichten. Personen, deren Grundrechte bei einem Frontex-Einsatz verletzt werden, bekommen so erstmal die Möglichkeit, sich dagegen bei Frontex zu beschweren. Die Europäische Bürgerbeauftragte und das Europäische Parlament („Keller/Metsola-Berichts“) hatten die Einführung eines solchen Beschwerdemechanismus gefordert.
  • Im Falle von schwer wiegenden oder anhaltenden Verletzungen der Grundrechte ist die Exekutivdirektion von Frontex verpflichtet, den Einsatz zeitweilig auszusetzen oder zu beenden. Der Exekutivdirektor wird zukünftig außerdem die Möglichkeit haben, dem entsprechenden Mitgliedstaat die Finanzierung des Einsatzes zu entziehen. Nach wie vor fehlen jedoch Kriterien um zu bestimmen, wann eine schwerwiegende Verletzung der Grundrechte vorliegt.

Das halten wir Grüne von dem Vorschlag

Ziel des Vorschlags ist es, die Zahl der „irregulären Grenzübertritte“ zu reduzieren. Der Vorschlag zwingt die Mitgliedstaaten, einen Frontex-Einsatz auf ihrem Hoheitsgebiet zu akzeptieren, um irreguläre Grenzübertritte zu verhindern. Das ist eine klare Botschaft an alle Mitgliedstaaten, die ihre Grenzen nicht dicht machen: Sie werden hiermit dazu gezwungen. Andererseits ist die Aufnahme von Flüchtlingen nach wie vor eine nahezu freiwillige Aufgabe. Die von der Kommission vorgeschlagenen Grundrechtsbestimmungen spiegeln außerdem in keiner Weise die neuen Aufgaben und Befugnisse von Frontex wieder. Der neue Vorschlag der Kommission wird zu einer weiteren Verwischung von Verantwortlichkeiten zwischen Frontex und den Mitgliedstaaten führen. Er birgt die Gefahr, dass Grundrechtsverletzungen zunehmen.

  • Mitgliedstaaten, die ihre Grenzen nicht ausreichend gegen „unkontrollierte Übertritte“ dicht machen, wird ein Frontex-Einsatzaufgezwungen. Dagegen müssen Mitgliedstaaten, die Zäune gegen Flüchtlinge errichten und sich weigern, ihrer Verpflichtungen zur Aufnahme von Flüchtlingen nachzukommen, keine vergleichbaren Konsequenzen fürchten. Mitgliedstaaten müssen einen Einsatz von Frontex auf ihrem Hoheitsgebiet hinnehmen. Umgekehrt ist Frontex aber nicht verpflichtet, einen Einsatz durchzuführen, wenn ein Mitgliedstaat das will. 
  • Die Stellung und Macht desExekutivdirektors von Frontex wird maßgeblich ausgeweitet. Er/sie kann EU-Mitgliedstaaten verbindliche Anweisungen geben und hat die Befugnis Regierungen vorzuschreiben, was sie zu tun haben. Dabei ist der Exekutivdirektor nichtgewählt und weder dem Europäischen Parlament noch den nationalen Parlamenten gegenüber rechenschaftspflichtig.
  • Obwohl Frontex zukünftig auch in Drittstaaten Einsätze durchführen kann, gibt es keine rechtlichen Vorschriften oder Garantien gegen die Verletzung von Grundrechten bei solchen Einsätzen. Der Vorschlag der Kommission sieht lediglich vor, dass Frontex und die Mitgliedstaaten „die Mindestnormen und -standards erfüllen, wie sie im Unionsrecht festgelegt sind“. Es gibt nicht einmal die Möglichkeit, bei Grundrechtsverletzungen Beschwerde gegen Beamte aus Drittstaaten einzureichen, geschweige denn dass sie rechtlich zur Verantwortung gezogen werden können.
  • Das gleiche gilt für Abschiebungen. Die von Frontex organisierten Rückführungsflüge können von Beamten aus Drittstaaten begleitet werden – diese sind allerdings weder an EU-Recht gebunden, noch kann Frontex disziplinarischer Maßnahmen gegen sie ergreifen. Wenn sie jemanden misshandeln und seine/ihre Grundrechte verletzen, gibt es keine Möglichkeit, sie zur Verantwortung zu ziehen. Grundsätzlich gilt: Grundrechtsgarantien bei Abschiebungsflügen sind viel zu schwach. Der Vorschlag der Kommission enthält weder Vorschriften für eine unabhängige Überwachung von Rückführungsflügen durch NGOs, noch irgendwelche anderen Bestimmungen darüber, wie die Grundrechte in diesem besonders sensiblen Bereich gesichert werden können. Abschiebungen können von der Kommission gegen den Willen von Mitgliedstaaten angeordnet werden.
  • Grundsätzlich bleibt der Schutz der Grundrechte weit hinter der neuen Machtfülle von Frontex zurück. Obwohl Frontex Einsätze in Mitgliedstaaten künftig auf eigene Initiative und notfalls gegen den Willen von Mitgliedstaaten in Gang setzen kann, hat die Agentur faktisch keine Handhabe gegen Grenzschützer, die bei solchen Einsätzen die Grundrechte verletzen. Das führt zu einer schwer wiegenden Einschränkung der Einhaltung von Grundrechten. Frontex kann zwar gegen eigene Mitarbeiter*innen Disziplinarmaßnahmen ergreifen; die sitzen aber in aller Regel im Hauptquartier in Warschau. Sämtliche Grenzschützer, die bei einer Frontex-Operation vor Ort im Einsatz sind, sind von den Mitgliedstaaten abgestellte Beamte. Frontex hat keine Handhabe gegen sie. Daran ändert auch das neue Beschwerdeverfahren nichts. Frontex leitet die Beschwerden gegen von den Mitgliedstaaten abgestellte Grenzschützer lediglich an die jeweiligen Mitgliedstaaten weiter, übernimmt selbst aber keine rechtliche Verantwortung.
  • Die Verpflichtung von Frontex, einen Einsatz im Falle von schwer wiegenden Grundrechtsverletzungen auszusetzen oder zu beenden, existiert nach wie vor lediglich auf dem Papier. Wir Grüne haben zusammen mit vielen NGOs wiederholt die Einführung von eindeutigen Kriterien für schwerwiegende Grundrechtsverletzungen und ein ordnungsgemäßes Verfahren dafür. Im Vorschlag der Kommission findet sich nichts davon.
  • Die Verwischung von Verantwortlichkeiten zwischen Frontex und den EU-Mitgliedstaaten ist seit jeher ein Problem. Mit dem neuen Vorschlag wird dieses Problem weiter verschärft. Die Kommission kann, wie gesagt, ohne Zustimmung des betroffenen Mitgliedstaats einen Frontex-Einsatz beschließen. Im Schadensfall haftet aber trotzdem immer noch der Mitgliedstaat. Der Mitgliedstaat muss dem jeweiligen Einsatzplan zustimmen, darüber hinaus muss er den Einsatz gegen seinen Willen befehligen und durchführen – eine ganz offensichtlich absurde Situation. Wenn der Vorschlag der Kommission so tatsächlich umgesetzt wird, wird sich das Problem der mangelnden Rechenschaftspflicht und Transparenz bei Frontex-Einsätzen weiter verschärfen.
  • Der Mangel an Grundrechtsgarantien und die Verwischung von Verantwortlichkeiten gehen Hand in Hand damit, dass das neue Frontex-Mandat humanitäre Verantwortlichkeiten wie die Rettung von Menschenleben außer Acht lässt. Stattdessen soll Frontex künftig Terroristen bekämpfen. Was dieser Vorschlag der Kommission in der Praxis bedeuten wird, ist nicht völlig klar. Aber er fügt sich in den lang anhaltenden Trend, dass Migrant*innen und Flüchtlingen in Europa zunehmend als Sicherheitsproblem wahrgenommen werden. Wir Grüne haben uns schon immer gegen eine solche Haltung ausgesprochen und werden dies auch weiterhin tun.
  • Der Vorschlag der Kommission enthält keinerlei Bestimmungen zur Erleichterung von Grenzübertritten, etwa für Flüchtlinge, noch zu Kernaufgaben von Frontex wie die Bekämpfung von (Waffen-)Schmuggel.

Die nächsten Schritte

Die neue Frontex-Verordnung tritt nur dann in Kraft, wenn sowohl die Mitgliedstaaten im Rat als auch das Europäische Parlament im Rahmen des so genannten „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ zustimmen. Im Laufe dieses Prozesses kann der Vorschlag der Kommission maßgeblich verändert werden.

  • Die Mitgliedstaaten haben bereits angekündigt, dass sie ihre gemeinsame Position zum Vorschlag der Kommission bis Juni 2016 vorlegen werden.
  • Das Europäische Parlament hat bisher noch keinen Berichterstatter*in/Verfasser*in einer Stellungnahme für die Frontex-Verordnung ernannt. Es steht daher auch noch nicht fest, wann das Parlament seine Position (in Form eines „Berichts“) formulieren wird.
  • In einem dritten Schritt handeln der Rat und das Europäische Parlament eine gemeinsame Position aus. Die neue Frontex-Verordnung tritt nur dann in Kraft, wenn beide sich auf eine gemeinsame Position einigen

Das gesamte Briefing ist hier auch als pdf einlesbar:

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